25 DEGRÉS EN HIVER
Katalogtext von Christiane Dressler, 2010
Diese Bilder sind chromatische Organismen der ganz eigenen Art. Auf der einen Seite behaupten sie ihre Verpflichtung gegenüber der Tradition, auf der anderen Seite zelebrieren sie Individualität und schrankenlose Unabhängigkeit, als hätten sie niemals von den großen Vorbildern, die sie zitieren, gehört. Und der Betrachter, je mehr er versucht, diesen Widerspruch zu lösen, produziert Déjà-vu- und Aha-Effekte, als habe die Rezeption von Kunst sich ihrer Grundvoraussetzungen immer wieder und neu zu versichern.
Wer würde beim Betrachten der Bilder von Susanne Kamps nicht an Matisse denken, an Dufy, Derain und die Fauves mit ihrem wegweisenden Konzept der Befreiung der Farbe und Form von jeder primär gegenstandsdarstellenden Funktion? An deren Begeisterung für das Licht, das in ihren Bildern ebenso eingefangen ist wie in denen der Düsseldorfer Künstlerin? Motivische und formale Parallelen sind nicht zu verkennen.
In la „Joie de Vivre“, diesem lebensbejahenden Initialwerk feiert Matisse ein überschwängliches Fest der Farbe, eine Stimmung, die der von Susanne Kamps entspricht, wenn sie in Südfrankreich arbeitet. Dort, wo sie ihre Empfindung für Farbe schärft, wo sie ihren Ausdruckswert spürt, wo sie malend erfährt, wie das Licht die Farbe zum Leben erweckt, und damit auch ihre Bilder. Lichtgesättigte Landschaften entstehen hier, Hafenansichten, sonnengetränkte Ateliers, Interieurs, Stilleben, Schaufensteransichten als flächig fulminante Abstraktionen aus Farbe, Form und Ornament.
Das ist der eine Aspekt ihres Werks, der postmoderne Kunst- und Wirklichkeitsbezug zur Realität des 21-sten Jahrhunderts der andere. Ein obsolet gewordener Fortschrittsglaube und fragmentierte Weltbilder bestimmen den Menschen heute, der selbstironisch, selbstreferenziell mit der Haltung eines synthetisierenden Tüftlers sich Wirklichkeit und Wahrheiten selber baut, der Traditionen zitiert, ohne daraus eine neue, Sinn stiftende Identität ableiten zu können.
„Das Modell bin ich!“, dieser euphorische Selbstbehauptungsanspruch von Henri Matisse gilt heute mehr und zugleich anders denn je. Auf der einen Seite muss jeder Einzelne zusammenflicken, was eine auf Wachstum orientierte Industriegesellschaft produziert: deregulierte Arbeitsmärkte, entstrukturierte Lebenslagen, ein risikoreiches ökonomisch ökologisches System. Auf der anderen Seite besteht gerade darin die Chance zu überleben. Nur in der permanenten, kreativen Adaption biografischer Entwürfe an sich wandelnde Lebenslagen entwickelt das moderne Ich seine Resistenz, im unermüdlichen „Dennoch und Trotzalledem“.
Wie geht Susanne Kamps mit diesen Facetten des Lebens in ihren Bildern um? Zitate ihrer kunsthistorischen Vorbilder transportiert sie in die Gegenwart, um deren Stil prägenden Einfluss hinter sich zu lassen und das Motto der Moderne „Das Modell bin ich!“ konsequent zu realisieren. Als Schauplatz wählt sie den privaten Raum, der Erinnerungen an Reisen impliziert.
Da sind die Atelierbilder, übervolle biographische Landschaften, in denen jedes Ding seinen lebendigen, ureigenen Platz einnimmt, selbstverständlich, mit großer Gelassenheit: Eine keilförmige, safran-, zitronig bis orangegelbe Tischplatte breitet sich aus mit Farbtuben, Karaffe, Kästchen, Keramik, Glastigeln, Stühlchen, Büchern, Blumen- und Fruchtstilleben in floral strukturiertem magenta- bis karminroten Innenraum, die Verandatür bleibt verschlossen in komplementärem, kaltem Grün. In anderen Interieurs drapiert die Künstlerin Kleider und Unterkleider, zufällig, vielleicht gerade abgestreift, Tücher, Naschwerk, pralle Südfrüchte auf rosa Decken über dem marokkanischen Mosaikfußboden, blaugrün getupft, der Farben intensiviert und kompositorischen Halt verspricht, bevor der Blick aus dem Fenster in Kaskaden tanzender Kirschblüten ruht. Draußen und drinnen, Räume und Farbakkorde durchdringen und steigern sich. Ein orgiastisches, lustbetontes Spiel findet im Privaten seinen freien Lauf mit wohligen Farbempfindungen, Synästhesien, Dissonanzen und leisen schrill schrägen Untertönen, die grenzwertiger nicht sein könnten.
In anderen Bildern verselbständigt sich das Atelier zur reinen Wohlfühllandschaft, die Einblick und Ausblick zeigt, dazu jede Menge einladender Details: Decken, Dekorationskissen, kuschelige Sofas, Kännchen, Tassen, Pantinen, Spiegel, Lampen bis hin zu japanischen Delikatessen und der Katze Bijou, die wohlig mit rot leuchtender Nase durch die Räume streift. Entspannung und Luxus pur, eine geschmackvolle Einladung zum genussvollen Leben, wohin man blickt.
Das Verschränken von Farbe, Form und Raum zu chromatisch rhythmisierten Spannungsbögen jeder Couleur ist eine außergewöhnliche Stärke dieser Bilder. Um Farbkaskaden artistisch zu steigern, löst Kamps sie vom Gegenstand, ohne ihn aufzugeben. Details und Stofflichkeiten, fast schon zum Flächenornament abstrahiert, umschreiben das Motiv, konzentrieren Stimmung und Atmosphäre der Momente gelebten Glücks.
Wenn Susanne Kamps Matisse zitiert, so unterwandert sie gleichzeitig dessen Programm. Auch er hat den Gegenstand seines privaten Umfelds nie verlassen: Denn wie „ein guter Schauspieler“ in verschiedenen Stücken kann auch der Gegenstand „eine unterschiedliche Rolle in zehn verschiedenen Gemälden spielen“. Doch während Matisse Kunst als vergeistigte Form versteht, „ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit und der Ruhe ohne jede Problematik, ohne jedes aufwühlende Sujet“, ist Susanne Kamps primäres Interesse die Arbeit an der Farbe selbst, als Ausdruck für das, was die Künstlerin als ihr „inneres Wesen“ umschreibt.
Begegnet man ihr, versteht man das. Von der Haar- über die Augen- bis zur Kleiderfarbe, vom Lippenstift über das Tuch bis zum Handschuh, den sie trägt, jedes Detail, jeder Gegenstand in ihrem Atelier, der Küche, dem Bad, Schlaf- oder Wohnraum, drückt eine essenzielle Affinität zur Farbe und ihrer punktgenauen Platzierung in jedem situationsspezifischen Kontext aus. Harmonische Akkorde, spitze Kadenzen, schweifende Bögen aus knallbunten Effekten von Kadmiumgelb, Chromoxydgrün, Ultramarin oder tiefem Meeresblau, von Magenta über Sonnenzinnober bis zu blutigem Karminrot, ihr gelingen diese schillernden Kombinationen, ohne dass sie je prätentiös oder exaltiert aussähen, ohne jede Attitüde affektierter Effekthascherei.
Obwohl sie Theorie und praktische Anwendung der Farbe bei Hermann-Josef Kuhna von der Pike auf gelernt hat und perfekt beherrscht, wirft sie dessen Malweise über Bord. Wenn ihr Lehrer mit kalkulierter Akribie jede Farbe Punkt für Punkt in winzigen Partikeln auf der Leinwand platziert, jeder Farbe, jedem Pinsel, eigene Tigel und Behältnisse einräumt, während er an mehreren Bildern gleichzeitig arbeitet, geht Susanne Kamps anders vor. Sie findet ihre Farben, innerlich im Erspüren des Motivs, trägt sie in Gedanken in visuell synästhesierenden Empfindungen mit sich herum, um sie schließlich auszuprobieren, sie sich auf der Leinwand entfalten zu lassen zu einem spannungsreichen Gemisch, das sie beruhigt und bändigt damit es nicht explodiert.
Den Blick auf den Hafen von Beaulieu-sur-mer krönt ein privates Stilleben im Vordergrund. Der Sonnenschirm schützt den gedeckten Tisch mit Tuch, Kästchen, Nähutensilien, Gegenstände, die sie so vielleicht dort arrangiert hat. Doch das ist sekundär. Im Bild fungieren sie als Attribute, um den Blick des Betrachters zu lenken. Um den privaten Lebensraum mit dem öffentlichen der Landschaft zu verbinden. In diesem Sinne sind ihre Bilder, Interieurs, Fensterausblicke und Schaufensterbilder bis hin zu den floralen und kulinarischen Stillleben psychographische Stenogramme, Momentaufnahmen privaten Glücks, des erarbeiteten, des erlebten und des erträumten. Dass sie diese bei all den schrägen Spitzen immer wieder im Gleichgewicht ausbalanciert, scheint mir eine Gabe der Natur, über die die Künstlerin ebenso wie der Betrachter dankbar sein kann. Lebensfreude, Lust und Farbenrausch, das Fest der kleinen Dinge, die das Leben so lebenswert machen – Susanne Kamps etabliert sie als ein authentisches Programm. Und das findet hier und heute im Privaten statt, gesehen mit den Augen einer genusstüchtigen Frau! „25 DEGRÉS EN HIVER“ ist die Betriebstemperatur!